Presse FAZ: Kunst, oder kann man das wegwischen?

Presse FAZ: Kunst, oder kann man das wegwischen?

Kunst, oder kann man das wegwischen?
von Nora Salman und Eda Güngöze

Stuttgart: Sie zeigen sich entlang der Autobahnen. Wenn man aus dem Zugfenster schaut, sieht man sie vereinzelt und in großen Bildern, und auch in der Stadt sind sie kein Einzelphänomen. Jeder hat sie schon mal gesehen und mehr oder weniger verstanden: Graffiti. Dass Graffiti im Volksmund einen negativen Eindruck erwecken, ist keine Neuheit. Dabei hat sich Urban Art zu einer jungen und weltweit anerkannten Kunstform entwickelt. Patrick Klein, der Betreiber des Graffiti-Ladens ThirdRail, also Stromschiene, kam ursprünglich aus Berlin. Was hat ihn vor 14 Jahren in das eher beschauliche Stuttgart verschlagen? \“Ich war viel in deutschen Städten unterwegs und besonders in Stuttgart oft bei Freunden zu Besuch. Mir hat es hier einfach gut gefallen\“, sagt Klein. Und nennt noch einen geschäftlichen Grund. \“Im Umkreis von 100 Kilometer sind wir der einzige Laden, der sich auf Spraydosen spezialisiert hat.\“ Wer denkt, dass nur Mitglieder der Szene einen Platz in Kleins Laden gefunden haben, liegt falsch. Es kommen Leute aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, um sich beraten zu lassen. \“Mit der Farbe lassen sich ja nicht nur Wände bemalen. Es kommt nicht selten vor, dass beispielsweise Architekten oder Modeschüler vorbeikommen, um ihren Projekten einen Feinschliff zu geben.\“

Der Graffiti-Store in der Ossietzkystraße nicht weit vom Hauptbahnhof ist nicht nur durch den großen Umbau schwer zu finden. Das Geschäft empfängt seine Kunden nach dem Hinabsteigen einer Treppe innerhalb des Gebäudes, wo der Laden sich befindet, mit dem Porträt einer dunkelhäutigen Person, gesprüht auf eine vier Quadratmetergroße-Leinwand, und einzelnen, knallbunten Bildern mit Motiven, die an Comics erinnern. Die meisten sind mit dem Decknamen \“Mister\“ signiert und zieren die Wände des Eingangsbereichs. Sich einen Namen zu machen ist das wichtigste in der Graffiti-Szene, so erregt man Aufsehen. Am Stil des Pseudonyms wird so lange gefeilt, bis er perfekt ist.

Im Laden steht ein Tischkicker. Die Ware ist auf hohen, breiten Regalen nach Farbe und Preis sortiert. Bei ThirdRail gibt es nur Spraydosen von ausgewählten Marken. Sie seien \“sauber und zuverlässig\“, sagt Klein. Der 33-Jährige ist nicht nur Inhaber des 2006 eröffneten Ladens, sondern auch Familienvater und Vorbild für viele Kids. Vor allem jüngere Sprayer halten sich die Gefahren oft nicht genug vor Augen und können damit andere, aber vor allem sich selbst gefährden. Besonders das illegale Besprühen an Bahnübergängen und Zügen ist ein großes Risiko und kann im schlimmsten Fall sogar tödlich enden. \“Eine Möglichkeit, um das lückenhafte Wissen der Unerfahrenen zu füllen, wäre, neben der sich immer wiederholenden Alkoholund Gewaltpräventionen an Schulen ein, zwei Stunden zu bieten, um mehr über Urban Art zu erfahren, inklusive den Gefahren durch illegale Handlungen\“, sagt Klein.

Nicht nur eine hohe Verletzungsgefahr an gefährlichen Orten kann lebenslängliche Folgen nach sich ziehen. \“Wenn man sich ungeschickt anstellt, kann man sich damit auch seine komplette Zukunft verbauen.\“ Dass der sympathische, bodenständig und gut organisiert, aber durch seine sportliche Kleidung lässig wirkende Mann im Gefängnis gesessen hat, fällt schwer zu glauben. Nachdem er seinen Hauptschulabschluss gemacht hatte, widmete er sich die folgenden Jahre nur noch dem Sprayen. Aber er wurde erwischt und musste acht Monate in Rottenburg am Neckar einsitzen.

Der Geschäftsführer hat mit seiner Vergangenheit abgeschlossen. Während seiner Arrestzeit schrieb er seinen Businessplan und setzte ihn nach seiner Freilassung um. Sein Hobby praktiziert er immer noch, allerdings nur noch legal. Mit seiner Agentur, die aus einer fünfköpfigen Mannschaft besteht, besprüht er alle möglichen Gegenstände nach Wunsch und Bedarf seiner Kunden. \“Die ist für eine Messe in Amsterdam.\“ Er zeigt auf eine bunt bemalte Parkuhr, die auf dem Tisch steht und gerade in Bearbeitung ist. \“Die wollten eben zeigen, dass eine Parkuhr auch mal bunt sein darf.\“

Erneut betont er: \“Graffiti sollte nicht illegal praktiziert werden. Das muss nicht sein.\“ Doch wo sollen Künstler ihre Kunst sonst ausüben und entfalten? Eine mögliche Lösung sind die sogenannten Halls of Fame, Orte, an denen man offiziell und legal sprayen kann. Wer schon einmal in der Hall of Fame in Bad Cannstatt war, weiß, was mit Platzmangel gemeint ist: Die Unterführung inmitten des Stadtteils bietet nur ein paar hundert Quadratmeter Fläche. Das daraus resultierende Problem: Kein Bild hält länger als eine Woche, ständig müssen Sprayer das Werk eines anderen übermalen, um ihre Dosen überhaupt benutzen zu können. Vor allem Neulinge können aber die Qualität eines Bildes nicht einschätzen. Dann komme es vor, dass ein Meisterwerk mit wochenlanger Arbeit für ein Anfänger-Geschmiere weichen muss.

Deshalb liegt der Schlüssel für das Problem der illegalen Graffiti nach Kleins Meinung auf der Hand: \“Statt Millionen für das Entfernen von Graffiti auf Brücken auszugeben, sollte der Staat das Geld lieber in legale Sprühflächen investieren.\“ Aber auch er sieht, dass es immer wieder Leute geben wird, die sich dem Gesetz widersetzen und fortfahren werden, illegal zu sprühen. Die Eröffnung solcher legalen Plätze sei aber schon mal ein guter Anfang, um die Zahl der Übeltäter zu vermindern.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung

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